Brexit – Notfall wird Realität

Planen, nicht abwarten

Autor: Michael Kip (Senior Consultant #FORTSCHRITT)
- 15.01.2019 -

Der Brexit wird kommen, denn für einen grundlegenden Umschwung fehlt im Vereinigten Königreich die kritische Masse. Träume, dass sich eine neue politische Mehrheit auf der Insel zusammenfindet und das Ruder noch herumreißt, sind: Träume. Noch entlegener ist die Hoffnung, dass die gegenwärtige Tory-Regierung sich eines Besseren besinnt und die Uhr zurückdreht oder dass es gar ein neues Plebiszit für einen Verbleib in der EU geben könnte. Die Frösche, die erst durch die überraschende Brexit-Volksabstimmung an die Macht gespült wurden, werden ihren Sumpf nicht freiwillig austrocknen.

Datum steht fest: 29. März 2019

Der faktische Brexit kommt am 29. März 2019, denn das ist nach den EU-Regularien der letzte Zeitpunkt, bis zu dem eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer und die einfache Mehrheit des EU-Parlaments Detailvereinbarungen zum Brexit ratifizieren müssten. Die Europäer werden versuchen, bis zur letzten Sekunde Details mit den Briten zu verhandeln, schon aus wirtschaftlichem und politischem Eigeninteresse. Schließlich ist Großbritannien wichtiger Absatz- und Liefermarkt für viele kontinentale Volkswirtschaften; die europäische Arbeitsteilung ist weit fortgeschritten. Die EU scheint auch zu temporären Vorleistungen bereit, etwa beim Aufenthaltsrecht für Briten in der EU. Doch zu befürchten ist nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen und der Situation der britischen Regierung, dass diese Vereinbarungen wenig Substanz beinhalten werden. Was die EU im März 2019 zu Papier bringen wird, dürfte kaum über diplomatische Floskeln hinausgehen, und zwar deshalb, weil für detailreiche Pläne ein konstruktiver Mitspieler auf der Gegenseite nicht sicher ist. Premierministerin Mays Machtbasis erodiert von Woche zu Woche und ihre Strategie scheint sich darauf zu reduzieren, bis zum letzten Moment zu warten, um auch die Zustimmung der Hardliner zum EU-Deal zu erzwingen. Doch wie es dann weitergeht, ist unklar. Wenn zweieinhalb Jahre seit dem Brexit-Referendum nicht für einen besseren Deal gereicht haben, wie soll dann in den nächsten zwei Jahren ein Weg am Nordirland-Fallback vorbeiführen?

Brexit Daten

Standbein auf dem Kontinent

Viele britische Firmen haben bereits erkannt, was ihre Regierung für sie tut, wenn sie weiter mit Europa Geschäfte machen wollen: Nichts! Umso mehr gilt das für internationale Firmen, die schon vor Jahrzehnten London aufgrund von Sprache und Kultur als ihren Standort im europäischen Wirtschaftsraum gewählt haben. Sie alle haben die Konsequenz gezogen, sich selbst helfen zu müssen. Das bedeutet: Sie benötigen einen infrastrukturell und kulturell passenden Standort in der geographischen Mitte der EU, also z.B. in Deutschland, Frankreich oder den Benelux-Staaten. Selbst wenn der jetzt vorliegende Deal von den Briten akzeptiert wird, bedeutet dies noch lange nicht, dass die damit erkaufte Zeit von zwei Jahren ausreicht, langfristige Vereinbarungen zu treffen. Es macht also Sinn, jetzt nach Standorten in der EU zu suchen und nicht abzuwarten.

Frankfurt für Finance auf Platz 1

Spekulationen, ob durch Standortwechsel in der europäischen Finanzindustrie eher Paris, Frankfurt am Main, Luxemburg oder die Niederlande profitieren werden, sind unmittelbar nach dem Brexit-Entscheid gewuchert. Frankfurt rangiert unter allen zukünftigen EU-Finanzplätzen eindeutig auf Platz 1, mit deutlichem Abstand vor Paris. 25 Banken, die durch den Brexit betroffen sind, kommen nach Frankfurt, ausländische Brexit-Banken verdoppeln in Frankfurt ihre Mitarbeiterzahl. Mindestens 8.000 neue Finanzjobs werden in Frankfurt durch den Brexit entstehen.

Kurs Pfund Euro

Standortfaktoren bewerten

Doch dies bedeutet nicht, dass Frankfurt am Main für alle anderen britischen Firmen außerhalb des Finanzsektors die beste Lösung in der Standortwahl ist. Sicherlich sind für viele Briten allein wegen der räumlichen Nähe Nordfrankreich, Belgien und die Niederlande die erste Wahl. Es fragt sich nur, ob dort noch ausreichend Arbeitskräfte und Infrastruktur vorhanden sind, um weitere Unternehmen erfolgreich anzusiedeln. Deutschlands Regionen sind vielseitig und können viel bieten, was ein Vorteil bei der Standortwahl sein kann. Nicht zuletzt aufgrund der dezentralen Organisation und unterschiedlichen regionalen Stärken. Zum Beispiel kommen neben der Rhein-Main-Region mit Frankfurt im Zentrum auch München mit Oberbayern und Düsseldorf mit der Rhein-Ruhr-Region für viele internationale Firmen als Standort in Frage. Wenn es hip und fancy sein soll oder Regierungsnähe gewünscht ist, geht es nach Berlin, in eines der größten Hubs der globalen Start-up-Welt. Mit den bestehenden internationalen Communities in diesen Städten, den guten Fluganbindungen, dem gesellschaftlichen Leben, den bereits vor Ort aktiven Global Actors sind belastbare und attraktive Strukturen gegeben. Aber auch mittelständisch strukturierte Produktionsregionen wie Sauerland, Ostwestfalen, Franken, Leipzig, das schwäbische Hinterland, die Rhein-Neckar-Region Baden mit Karlsruhe oder Mannheim können für Maschinenbauer und Automobilzulieferer interessant sein. Hier sind Kooperationen mit deutschen Firmen, wie auch die Integration in die lokalen Netzwerke möglich. In Ostdeutschland sind umfangreiche Fördermittel bei einer Ansiedlung erwägenswert, welches für die eine oder andere Firma, vor allem im produzierenden Gewerbe, attraktiv sein kann. Hier gibt es zudem ein gewisses Arbeitskräftepotential.

Standort jetzt finden

Der Brexit bringt schmerzlich in Erinnerung, was in einem stetig zusammenwachsenden Europa in den vergangenen dreißig Jahren gerade für Unternehmer an Bedeutung verloren hatte: Der Standort ist wichtig und „all business is local“. Wer sicherstellen will, dass er nach dem 29.3.2019 noch eine Rolle auf dem Kontinent spielen kann, muss ein Standbein auf dem Kontinent haben. Das wird aufwändig, aber abzuwarten und nichts zu tun, wird mittelfristig teurer.

Michael Kip
Senior Consultant

Michael Kip ist Projektmanager und Auditor im Qualitätsmanagement. Der Diplom-Volkswirt war viele Jahre bei britischen sowie internationalen Konzernen tätig und mit pan-europäischen Projekten betraut.

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