Der Kampf gegen Simplifizierung

Autor: Michael Baur (Consultant #FORTSCHRITT)
- 17.09.2019 -

In manchen Organisationen, wie beispielsweise der Flugsicherung, Kernkraftwerken oder Justizvollzugsanstalten, kommt es ganz besonders auf den professionellen Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen an. Die Vereinfachung komplexer Prozesse und Sachverhalte kann für solche Organisationen und ihre Umwelt verhängnisvolle Konsequenzen haben. Daher haben sie Instrumentarien entwickelt, die sie in die Lage versetzen, Krisen und Störereignisse früher zu erkennen und ihnen zielgerichteter zu begegnen.

Leichte Erklärung – schlechter Ablauf

HROs (High Reliability Organizations) sind in besonderem Maße, noch vor allen anderen Unternehmen, darauf angewiesen, Fehler zu vermeiden. In ihrem Fall kann die tägliche Routine das Managen nicht übernehmen, weshalb dem achtsamen Organisieren eine Schlüsselrolle zukommt (Weick & Sutcliffe, 2016). Ebenjenes achtsame Organisieren wird durch die Abneigung gegen Vereinfachungen generiert. Vereinfachungen verschleiern nämlich unerwünschte, unvorhergesehene und bisher unerklärliche Details und steigern somit die Wahrscheinlichkeit von Fehlern und einer verminderten Leistungsfähigkeit (Weick & Sutcliffe, 2016). Die menschliche Neigung, sich komplexe Sachverhalte durch starke Vereinfachungen begreifbar zu machen, schlägt oft auch auf die Umsetzung der Lösung um. So werden mit zunehmenden Vereinfachungen innerhalb von Unternehmen augenscheinlich nebensächliche Bestandteile vernachlässigt oder gar vergessen, wodurch das verantwortliche Personal seinen Einfluss auf den Arbeitsablauf verliert. Miller (1993) beschreibt diesen Effekt als Monolithisierung der Organisation.

Eine konstruierte Wirklichkeit

Im täglichen Arbeitsablauf kommt es durch die sich einstellende Routinierung zu einem starken Kontrast zwischen dem „Unerwarteten“ und dem „Erwarteten“. Bereits der Arbeiter entwickelt bei der Erfüllung seines Auftrags erste Erwartungen hinsichtlich des weiteren Verlaufs seiner Tätigkeit. Diese bemisst sich vor allem an der Art und der Qualität seiner Durchführung und deren Begleitumstände. Diese Bemessung führt nahezu instinktiv zur Ausblendung des Unerwarteten. Im theoretischen Ansatz mag dieser Sachverhalt beinahe selbstverständlich wirken, in der Praxis jedoch lässt sich das Ausmaß des Problems nur erahnen. Sobald unvorhergesehene Probleme entstehen, sorgen eine interaktive Komplexität und eine enge Koppelung der Prozesse für eine massive Einschränkung der Prozesserfassung. Aus diesem Grund stehen Unternehmen, welche trotz komplexer Arbeitsprozesse und schwieriger Arbeitsbedingungen nur wenige Zwischenfälle aufweisen, in dem Ruf eines guten Managements der Ablaufkomplexität (Weick & Sutcliffe, 2016).

Abb. 1: Fehleranfälligkeit in Abhängigkeit vom Vereinfachungsgrad (eigene Darstellung)

 

Beispiele aus der Praxis zeigen, dass ein individuelles, für die Berufsgruppe spezifisches Bewusstsein von großer Bedeutung ist. Nicht in jeder Tätigkeit lässt sich nämlich das Unerwartete in gleichem Maße messen. Selbst in Berufen, welche ein ähnlich hohes Maß an Verantwortung verlangen, können die Wahrnehmungen weit auseinandergehen. Beispielsweise wird einem Mitarbeiter der Bergwacht das Unerwartete, bedingt durch die Konfrontation mit naturgemäß unberechenbaren Elementen, alltäglich präsent sein. Dem Krankenpfleger eines städtischen Klinikums wird dieses möglicherweise nicht mehr ganz so präsent erscheinen. Die Verantwortung für Leib und Leben ist jedoch dieselbe.

Das Unerwartete managen

Auf der Grundlage dieser Vorüberlegung generiert sich folglich für unseren persönlichen Alltag die Frage: Welches Verständnis entwickeln Organisationen bezüglich komplexer Abläufe?

Als Beispiel kann die Landung eines Flugzeugs auf einem Flugzeugträger gelten, welche andauernd wechselnden Parametern (u.a. Wetter, Seegang, Flugverkehr) unterworfen ist und ein schnelles Managen erfordert. Besonders einem umfassenden Verständnis der Situation und der größeren Zusammenhänge der Einzelabläufe kommen hierbei eine gesonderte Rolle zu. Auffällig ist vor allem der qualitative Fokus von HROs auf ihre Zielsetzung. In Abgrenzung zu regulären Unternehmen konzentrieren sich HROs in besonderem Maße auf Fehler im Ablauf, anstatt ausschließlich auf prozessuale Ziele. Dies impliziert eine bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit und damit die Implikation von Abneigung gegen Vereinfachungen. Bereits die Empirie zeigt, dass HROs durch ihr Verhalten weniger anfällig für Fehler sind. Das achtsame Organisieren schafft im prozessualen Ablauf die Sensibilität, welche eine Nivellierung der Komplexität nach unten nicht zulässt (Weick & Sutcliffe, 2016).

Die Kernbotschaft dieser Aussage beinhaltet eine Warnung vor einer Routinierung und den damit verbundenen Vereinfachungen. Ein einfaches Theoriemodell kann durchaus zur Erklärung eines komplexen Vorganges dienlich sein. Jedoch darf die absichtliche Vereinfachung eines Ablaufs nicht zur Verharmlosung seiner Komplexität führen. Insbesondere technische Details und deren spezifische Probleme verdienen Beachtung. Erst diese bewusste Wahrnehmungsveränderung kann die Rezeption und schnelle Behandlung unvorhergesehener Probleme ermöglichen.

„The Columbia is lost; there are no survivors“ – kleine Ursachen mit großer Wirkung

Im Fall der 2003 verunglückten Raumfähre „Columbia" löste sich beim Start ein Stück Isolierschaum vom Treibstofftank. Dies war bei Shuttle-Starts bereits häufiger aufgetreten und wurde aufgrund bisher reibungslos stattgefundener Missionen bis zu diesem Zeitpunkt nie genauer untersucht. Dadurch stellte jenes Phänomen auch am Starttag der „Columbia“ am 16. Januar 2003 eine vielfach gewohnte Begleiterscheinung dar. Genau dieser Fehler führte jedoch nach Jahren erfolgreicher Raumfahrt zur Katastrophe. Nach einer zweiwöchigen Mission brach die „Columbia“ beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinander; alle sieben Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Die Ursache hierfür war ein vom herabfallenden Isoliermaterial entstandenes Loch im Hitzeschild der Raumfähre. Aufgrund des vorherrschenden Erfolgs hatte man die Start- und Aufstiegsphase bewusst vereinfacht und das bekannte Problem ignoriert. Die katastrophalen Folgen, die durch die Vereinfachung eines komplexen Systems entstehen können, lassen sich am Beispiel der „Columbia“ deutlich erkennen. Komplexe Systeme lassen sich nur präzise durch die Interaktion ihrer Einzelbestandteile erklären.

Nur Vielfalt schlägt Vielfalt

Der Versuchung einer Vereinfachung kann nur im Kontext tiefen Verständnisses für die Interaktion der Einzelbestandteile widerstanden werden. Radikale Vereinfachungen können fatale Folgen für die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens darstellen. Insbesondere das Gesetz des Soziologen W. Buckley zur notwendigen Vielfalt beschreibt diesen Sachverhalt treffend:

„Die Vielfalt innerhalb eines Systems muss mindestens so groß sein wie die Umweltvielfalt, gegen die es sich zu regulieren versucht. Kurz gesagt, nur Vielfalt kann Vielfalt regulieren".

Karl E. Weick, Professor für Organisationsverhalten und -psychologie, greift den Satz von Buckley erneut auf. Er postuliert eine deutliche Verringerung der Eindeutigkeit und der Erfassung von Daten, sobald ein einfacher Prozess auf komplizierte Daten angewandt wird. Diese Aussage lässt folgende Schlussfolgerung zu:

„Ist ein Unternehmen nicht ausreichend strukturiert, um die Komplexität seiner Umgebung zu beherrschen, so ist sein Bestehen essenziell gefährdet".

Die Landung eines Flugzeuges auf einem Flugzeugträger ist für den Piloten und die Air-Crew keineswegs ein Routineeinsatz, jedoch gleichzeitig alltäglich. Sie stellt somit ein ambivalentes Ereignis dar, deren Akteure unterschiedliche Grundeinstellungen verfolgen. Die Aufmerksamkeit muss verstärkt auf Anomalien gelenkt werden und der Fokus der unterschiedlichen Beobachtungen muss den unmittelbaren Moment ins Auge fassen. Eine Etikettierung von Problemen ist dabei auszuschließen (Weick & Sutcliffe, 2016).

Die Präsenz von fundiertem Wissen darf nicht alleinig zu einem Sicherheitsempfinden führen, sondern muss vielmehr ein Level gesteigerter Aufmerksamkeit provozieren. Ebenso garantiert das bloße Vorhandensein von spezifischem Wissen noch keine Aktivierung desselben bei akutem Bedarf. Das Problem ist also die Zugänglichkeit von Wissen im kontextualen Ereignis. Bereits Woods (1994) erkannte die Fähigkeit der Piloten, Erlerntes in den Debriefings zu rekapitulieren, dieses jedoch nicht zwingend im realen Flugbetrieb anzuwenden. Diese Form inerten Wissens spielt bei der Untersuchung von Unfällen eine wichtige Rolle.

Fazit

Vereinfachungen komplexer Prozesse verschleiern bedeutende Details und steigern somit die Wahrscheinlichkeit für Fehler beträchtlich. Diese Monolithisierung der Organisation vermindert ebenso die Einflussnahme verantwortlicher Operateure. Es gilt: Nur Vielfalt kann Vielfalt regulieren.

Eine ständige Skepsis gegenüber erlerntem Wissen muss als Form der Redundanz verstanden werden. Diese beeinflusst die Suche nach Varietät im Prozessablauf positiv. Das Verhindern von Vereinfachungen komplexer Systeme führt darüber hinaus zur Wahrnehmung einer größeren Anzahl von Problemen. Wie das Columbia-Unglück zeigt, kann bereits der Bedeutungsverlust einer Begleiterscheinung zum Totalausfall führen. Eine Struktur achtsamer Organisation, die eine Nivellierung der Komplexität nach unten nicht zulässt, wird an dieser Stelle unersetzbar.

Insbesondere in der Forschung, sowie im Meinungsbildungsprozess betrieblicher Abläufe kommt dieser „Struktur der Achtsamkeit“ eine wichtige Rolle zu. Hier führt die Ablehnung von Simplifizierung dazu, dass die empirisch bezeugte Neigung des Festhaltens an primären Interpretationsansätzen überwunden wird. Dies ist die Basis für gründlich geprüfte und entwickelte Entscheidungen, welche langfristig zum Erfolg führen.

Best Practice:

  1. Im Management muss beständig nach detaillierten Lösungen gesucht werden.
  1. Eine Reduktion auf Hauptziele und die damit verbundene Einschränkung hemmt dabei nicht nur die Qualität des Ergebnisses. Viel weitergehend ist die damit verbundene Unfähigkeit, auf Markt- und Umfeldveränderungen erfolgreich reagieren zu können.
  1. Die Komplexität des Lösungsansatzes muss mindestens so hoch wie die des zu lösenden Problems sein. Die Anwendung eines einfachen Prozesses auf eine komplexe Aufgabenstellung ist zum Scheitern verurteilt.
  1. Kontextualisiertes Wissen muss Formen inerten Wissens verdrängen, um Dynamik und Reaktionsfähigkeit im Ernstfall zu erhalten.

In einer Zeit wachsender Vielfalt können besonders Think-Tank-Ansätze nicht nur einer starken Vereinfachung entgegensteuern, sondern auch dabei helfen, mit Komplexität umzugehen. Insbesondere die mit Think Tanks verbundene heterogene Denkweise und Diversität bieten den ersten holistischen Lösungsweg gegen übermäßig vereinfachte Strategien. Durch diesen Erhalt von Komplexität und Dynamik in unseren Arbeitsansätzen gelingt unserem Team bei #Fortschritt die Generierung individueller Problemlösungen. Nur auf diesem Weg können zukunftsfähige Resultate in den agilen Systemen der heutigen Zeit gefunden werden.

    • Cook, R., & Woods, D. (1994). Operating at the Sharp End: The Complexity of Human Error. In: M. S. Bogner (Hrsg.), Human Error in Medicine, S. 255-310. Hillsdale, NJ: Erlbaum and Associates.
    • Miller, D. (1993). The architecture of simplicity. The Academy of Management Review, 18(1), 116-138.
    • Weick, K. E., & Sutcliffe, K. M. (2016). Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
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Michael Baur
Consultant

Er ist Experte für Führungsstrategien und Management. In diesem Zusammenhang liegt sein Schwerpunkt auf der Etablierung reaktionsschneller Führungsstrukturen für eine erfolgreiche Prozesssteuerung. Diese ist die Grundlage für die Anpassungsfähigkeit an schnelle Marktveränderungen.

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