Go East!

Von der Billigwerkbank zum Powerhouse

Autor: Bence Csizmadia (Consultant #FORTSCHRITT)
- 28.02.2020 -

Mittel- und Osteuropa dient für die Automobilindustrie seit Jahrzehnten als verlängerte Produktionswerkbank. Mithilfe von staatlichen Investitionsanstrengungen ist die Automobilproduktion „Made in Eastern Europe“ längst nicht nur günstig, sondern auch in Zeiten des Umbruchs durch hohe Qualitätsstandards gewappnet für die Zukunft.

 Das Powerhouse der europäischen Automobilproduktion

Seit drei Jahrzehnten ist das Wirtschaftswachstum in Mittel- und Osteuropa untrennbar mit der viele Jahre stetig wachsenden globalen Automobilproduktion verbunden. Insbesondere seit 2002 erlebte Bulgarien, Polen, Rumänien, Slowenien Slowakei, Tschechien, und Ungarn eine starke Aufwertung als Produktionsstandort. Eine kontinuierlich zunehmende Anzahl an Herstellern (OEMs) und Zulieferern (Tier 1‑3) wählen Mittelosteuropa als neuen Produktionsstandort. Im Jahr 2017 waren insgesamt mehr als 579 OEM Niederlassungen in der Region vorzufinden, was einen Anteil von 21,4 % der gesamten Niederlassungen in der EU-28 ausmacht. Mehr als 2.831 Zulieferer sind ebenfalls in der Region vertreten und stellen mit 27 % einen signifikanten Anteil an allen EU-28 Niederlassungen dar (Eurostat 2019). In der Ländergruppe wurden 2017 insgesamt 3,59 Mio. Kraftfahrzeuge produziert, was einen Anteil an der globalen Produktion von 5 % darstellt (IOMVM 2019).

Automobilität in Mittel- und Osteuropa stellt folglich eine Erfolgsgeschichte sowohl für die Unternehmen als auch die Staaten dar. Während die Automobilindustrie ihre globalen Absatzzahlen zwischen 2012 und 2017 stetig steigern konnte (VDA 2019), wurde auch die Anzahl an Produktionsstandorten in der Region seitens der OEMs um 62 % signifikant erhöht (Eurostat 2019). Der Automobilsektor stellt damit einen außerordentlich wichtigen Wirtschaftsfaktor dar und hat dadurch in einigen Staaten, wie etwa in Ungarn mit 21,6 % oder in Polen 15,6 %, einen zweistelligen Anteil am Gesamtexport (CMS 2016).

Doch wie ist diese „win-win“ Situation entstanden und was sind die ausschlaggebenden Faktoren, welche die Unternehmen nach wie vor zu weiteren Investments in der Region bewegen? Für eine ganzheitliche und insbesondere verständliche Darstellung der relevanten Faktoren soll im Folgenden eine PEST-Analyse angewendet werden.

PÖST Analyse

Abb. 1: PEST-Analyse (FORTSCHRITT, 2020)

Politisch: Die Ländergruppe in Mittel- und Osteuropa zeichnet sich durch eine sehr industriefreundliche Regierungspolitik aus. Länderübergreifend gewährleisten die Regierungen äußerst vorteilhafte steuerliche Rahmenbedingungen. So ist die Unternehmensbesteuerung im Vergleich zu den durchschnittlichen 33,9 % der EU-28 bei nur 16,4 % (Bundesministerium der Finanzen 2019, S. 16). Die vorteilhaften Rahmenbedingen werden zusätzlich flankiert von proaktiven finanziellen Fördermaßnahmen. Beispiele für solche Fördermaßnahmen sind die allgemeine Bereitstellung von Infrastruktur (z.B. in PL vereinfachter Investorenzugang zu erschlossenen Baugrundstücken), eine breit angelegte Reform der Berufsausbildung (z.B. Übernahme des Konzepts vom Dualen Studium in HU) oder umfangreich gewährleistete  Investitionszuschüsse (z.B. CZ bis zu 25 % der Kosten), welche die Entscheidung für die Region erleichtern sollen. Ein weiteres Kernmerkmal ist die breite Förderung von industrierelevanter Forschung und Entwicklung, sei es durch Schaffung von Wissenschaftszentren oder der gezielte Ausbau von MINT-Studiengängen an Hochschuleinrichtungen.

Ökonomisch: Seit den späten 1990ern ist der Raum Mittel- und Osteuropas insbesondere durch das wettbewerbsfähige Durchschnittseinkommen in der Bevölkerung gekennzeichnet, die eine kosteneffiziente Produktion sowohl für Zulieferer als auch OEMs ermöglicht. Dies wird ergänzt durch exportfreundliche Wechselkurse in mehreren Staaten, die noch nicht Mitglied der Eurogruppe sind (z.B. BG, CZ, PL, RO, SI, SK).

Gesellschaftlich: Das stetige Wirtschaftswachstum der Staaten geht mit einer kontinuierlich wachsenden Kaufkraft der Bevölkerung einher. Während bereits jetzt neue Kraftfahrzeuge, angefangen von Kleinstwagen bis zur Mittelklasse, zunehmenden Absatz in der Region finden, wird langfristig der Raum nicht nur als Produktionsstandort, sondern auch als stetig attraktiver werdender Absatzmarkt für margenstarke Premiumprodukte von Bedeutung sein. Dies korreliert nicht zuletzt mit dem äußerst positiven Image der Automobilindustrie in den besagten Ländern, wo Kraftfahrzeuge weiterhin solide ihre Stellung als Statussymbol bewahren.

Technologisch: Die Ausgangsbedingungen im Hinblick auf die Technologiefaktoren erfuhren in den vergangenen Jahren eine stetige Verbesserung. Bezüglich den Humanressourcen ist eine kontinuierliche Stärkung der universitären MINT-Kompetenzen festzustellen. Diese werden erreicht durch zum Teil gezielte Bildungsreformen (z.B. erleichterter Studienzugang zu MINT-Fächern in HU), welche seitens der Regierungen in die Wege geleitet wurden und dadurch den Unternehmen eine weitere eine Spezialisierung in zunehmend anspruchsvolle Produktionsprozesse ermöglicht. Daneben ist die geographische und infrastrukturelle Anbindung der Produktionsstandorte ein weiterer Vorteil, welches seitens der Produzenten als Entscheidungsgrund angeführt wird.

Die Automobilindustrie im Umbruch – Wo geht es hin?

Die Automobilindustrie von Nah und Fern steht in mehrfacher Hinsicht vor großen Herausforderungen. Die OEMs wie auch die Zulieferer sind zunehmend gefordert, umfangreiche Investitionsanstrengungen zu verwirklichen. Sei es im Bereich des autonomen Fahrens oder im Hinblick auf die Elektrifizierung der Antriebsstränge (z.B. E-Autos, Mild und Plug-in Hybrids), die Unternehmen sind sowohl durch den Gesetzgeber als auch den Kunden im Zugzwang signifikante Ergebnisse vorzuweisen. Dies äußerst sich unternehmensübergreifend in erheblichen Anpassungen der Unternehmensstrategie, was sich unter anderem in einer massiven Erhöhung der Forschungsausgaben materialisiert. Gleichzeitig ist die Industrie mit einem erheblichen Absatzrückgang konfrontiert, der jüngst insbesondere die deutsche Automobilindustrie in ihren Umsatzplänen zurückgeworfen hat (Autohaus.de 06.06.2019).  Die Gründe für diese negativen Entwicklungen sind, wie allgemein bekannt, vielfältig. Seien es die Auswirkungen der globalen Handelskonflikte, der Brexit, das Abkühlen der chinesischen Wirtschaftsentwicklung oder der Rückgang der gesamteuropäischen Binnennachfrage, sie alle verschärfen die Rahmenbedingungen für die Unternehmen.

Aus der Not eine Tugend machen – Go East!

Umso wichtiger ist es, dass in dieser Situation eine kosteneffiziente Produktion realisiert wird, die nicht zu Lasten der Qualitätsansprüche in einem immer kompetitiveren Markt geht, gleichzeitig aber auch genügend Cash-Flow für notwendige Investitionen gewährleistet. Sollte es mittel- bis langfristig tatsächlich zu einer Verdrängung des Verbrennungsmotors durch Elektromotoren kommen, dann wird laut der Prognose der Europäischen Kommission auch ein Rückgang von 5 % auf 2 % bei der durchschnittlichen Gewinnmarge erfolgen (Europäische Kommission 2017, S. 64). Dies wird den bereits jetzt bestehenden Kostendruck noch weiter signifikant erhöhen. Die hohen Forschungsausgaben unterstreichen die Notwendigkeit einer sparsamen Produktion zusätzlich.

Hier bietet Mittel- und Osteuropa erneut ein Opportunitätsfenster. Durch den fortschreitenden Technologisierungsgrad sind die Unternehmen in der Lage hochkomplexe Produktionsprozesse in der Region zu realisieren – Produktionsprozesse, die vor einigen Jahren technisch noch nicht möglich gewesen wären. Der durch BMW im Bau befindliche Produktionsstandort in Debrecen (Ungarn), der eine flexible Fertigung von Fahrzeugen mit Verbrennungs- als auch Elektromotoren ermöglicht, oder der VW-Produktionsstandort für E-Autos im tschechischen Mladá Boleslav sind nur einige Beispiele, welche Zeugnis von der bereits jetzt bestehenden technischen Konkurrenzfähigkeit ablegen (FES 2019, S.7). Auch in der längerfristigen Perspektive werden die bestehenden Reformbemühungen im Bereich der Bildungspolitik sowie durch die proaktive Investitionsförderung dazu führen, dass Mittel- und Osteuropa in den sich zunehmend stürmisch abzeichnenden ökonomischen Fahrwassern ein solider Baustein in der Wertschöpfungskette der Automobilindustrie verbleiben wird.

#FORTSCHRITT-Fazit

Mittel- und Osteuropa hat sich als nachhaltig stabiler und profitabler Produktionsstandort für die Automobilindustrie bewiesen. Zahlreiche OEMs und Zulieferer sind bereits jetzt in der Region vertreten. Doch ist damit das sprichwörtliche Ende der Fahnenstange erreicht? Mitnichten!  Die Automobilindustrie ist wie noch nie zuvor von einem umfassenden Umbruch erfasst.  Sinkende Absatzzahlen bei gleichzeitig massivem Investitionsbedarf im Bereich der Forschung und Entwicklung haben den Kostendruck weiter ansteigen lassen. Standortdiversifizierungen werden dadurch zu einer strategischen Notwendigkeit.

- Doch wohin soll es gehen? Go East! -

Vorteilhafte Standortfaktoren, sei es im Hinblick auf Humanressourcen, steuerliche Rahmenbedingungen oder auch Infrastruktur bieten ein enormes Potenzial. Die Suche eines Produktionsstandortes in der Region muss jedoch gut vorbereitet sein. Eine umfangreiche Analyse der Standortfaktoren sowie die Abstimmung mit Behörden, Wirtschaftsverbänden und anderen Stakeholdern ist unabdingbar, um das potenzielle Risiko einer schlecht durchgeführten Standortverlagerung zu minimieren. #FORTSCHRITT bietet Ihnen hierbei nicht nur umfassende Expertise im Bereich der Expansion und der Weiterentwicklung Ihres Geschäftsmodells, sondern kann Sie als starker Partner durch Vor-Ort Expertise (z.B. in Ungarn) durch den Prozess begleiten.

Dr. Marcus Lödige
Head of Research #FORTSCHRITT

Dr. Marcus Lödige (geb. Dodt) ist Head of Research bei der Think-Tank-Beratungsgesellschaft #FORTSCHRITT. Er ist Experte für Higher Education, Corporate Development, Market Research und New Work. Er hat an der Deutschen Sporthochschule Köln promoviert und ist zertifizierter Scrum Master.

Dr. Marcus Lödige