Eine Alternative zum klassischen Projekt?
Autorin: Theres Heinrich (Consultant #FORTSCHRITT)
- 08.08.2022 -
Technologiewandel und Digitalisierung führen zu Vereinfachung von Prozessen und einer kontinuierlich ansteigenden Schnelllebigkeit in der Privat- und Wirtschaftswelt. Weiterhin hat sich der angebotsorientierte Herstellermarkt zu einem nachfrageorientierten Käufermarkt entwickelt und stellt in dessen Folge neue Anforderungen an Unternehmen.
In der Wirtschaftsgeschichte gab es bislang keinen höheren Bedarf, Unternehmen neu zu strukturieren. Produktzyklen, Organisationsformen und Prozesse haben heute eine verkürzte Halbwertszeit. In der Automobilindustrie zum Beispiel dauerte es um die Jahrhundertwende ca. drei Jahre von der Idee bis zum fertigproduzierten Fahrzeug. Bereits zehn Jahre später wurden für dieser Prozess nur noch 20 Monate benötigt [1]. Demzufolge werden Führungskräfte und Mitarbeitende wie nie zuvor mit einer Wirtschaftswelt konfrontiert, die in kurzen Zeitintervallen neue Arbeits- und Verhaltensweisen erfordert. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen, dass diejenigen Unternehmen, die sich kontinuierlich reflektieren und an ihre Umwelt anpassen, mittel- und langfristig erfolgreicher sind. Diesem Wandel müssen sich Unternehmen stellen, um weiterhin profitabel am Markt agieren und Kundenbedürfnisse optimal befriedigen zu können. Insofern sind Unternehmen auf der Suche nach neuen Formen der Organisation. Eine solche ist die Anwendung der Schwarmintelligenz. Doch was bedeuten Agilität und Veränderungsmanagement durch Innovation und Anpassung?
Definition einer Schwarmorganisation
1906 wurde das Konzept der humanen Schwarmintelligenz erstmalig niedergeschrieben und gewinnt in der aktuellen Zeit zunehmend an Bedeutung [2]. Schwarmorganisation beschreibt einen Organisationsprozess, der durch Selbstorganisation und Erfolg des einzelnen Individuums zum Gesamterfolg der Gruppe führt. Die Koordination der Aufgaben basiert auf ständiger Interaktion zwischen allen Mitgliedern der Gruppe. Die Besonderheit des Schwarms charakterisiert die Fähigkeit, sich schnell umzuformieren und ohne vorgelagerte Planung flexibel, koordiniert und ergebnisorientiert zu handeln [3]. Dies führt zu einer hohen Agilität und Varianz der individuellen Aufgabe. Um dies zu erreichen, zeichnet sich die Schwarmorganisation durch flache Hierarchieebenen und geringe Bürokratie aus. Ergebnis dessen ist eine hohe Flexibilität und hohe Robustheit sowie schnelle Anpassungsfähigkeit. So stellt sich die Frage, ob Schwarmintelligenz und die Organisation im Kollektiv auf die Wirtschaft übertragbar sind und wie sie im Unternehmensalltag Anwendung finden können.
Abgrenzung zum Projekt
Nach DIN 69901 ist ein Projekt ein einmaliges, zeitlich begrenztes Vorhaben zur Schaffung eines Produktes, einer Dienstleistung oder eines Ergebnisses, das im Wesentlichen durch eine Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist [4].
Abb. 1: Projekt vs. Schwarm, eigene Abbildung
Rahmenbedingungen einer Schwarmorganisation
Allgemeine Grundvoraussetzungen
Ohne Innovationsdruck von außen ist eine Umstrukturierung alter Routinen und Organisationsveränderung gehemmt; niemand wird den Sinn dieser Veränderung verstehen und sie deshalb nicht annehmen wollen, was zum Misserfolg des Vorhabens führt.
Abb. 2: Grundvoraussetzungen für eine Schwarmorganisation
Erste Grundvoraussetzung einer strategischen und weitsichtigen Schwarmlösung ist eine Arbeitsweise, welche eine obligatorisch agile Ausrichtung in allen Bereichen verfolgt. Ein bedeutsamer Erfolgsfaktor für den Schwarm ist seine Unabhängigkeit. Dies bedeutet, dass Zwischenstände neuer Ideenentwicklungen innerhalb des Schwarms vorerst nicht mit externen Abteilungen bzw. Einheiten ausgetauscht werden sollten.
Die zweite Kategorie umschreibt das Mindset, in der eine End-to-End Verantwortlichkeit aller Schwarmmitglieder vorgesehen ist. Hierin ist auch die Verantwortung der Sicherstellung einer gelebten Agilität inkludiert. Um diese optimal zu fördern, bedarf es einer heterogenen Teamzusammensetzung. Der Zugewinn einer derart aufgestellten Gruppe schlägt sich in unterschiedlichen Denkansätzen der Mitglieder nieder, was zu gesteigerter Experimentierfreudigkeit und verschiedenen Lösungswegen führt.
In der Struktur sind die Voraussetzungen für die Dauer und den Umfang des Schwarms festgehalten. Diese Punkte umfassen unter anderem die Bedingung, dass die Rollenverteilung im Schwarm unabhängig von herkömmlichen Hierarchien und auf Basis von individuellen Fähigkeiten vorgenommen wird. Weiterhin kann ein Schwarm nur aus Mitgliedern bestehen, die auch das notwendige Know-how mitbringen und in der Lage sind, innerhalb des Themengebietes Problemlösungen zu entwickeln. Zusätzlich ist ein offener Informationsfluss innerhalb des Schwarms als Grundlage der Kompetenzvernetzung essenziell. Dies bedingt, dass jedes Schwarmmitglied jederzeit über alle notwenigen Informationen verfügt [5].
Stärken
Es können drei Hauptstärken festgelegt werden: Flexibilität, Transparenz und Innovation. Der wahrscheinlich größte Vorteil der Innovation des Schwarms ist der Serendipitätseffekt. Dieser kommt in starren Strukturen nicht vor. Serendipität bezeichnet das Phänomen, zu einer Erkenntnis durch das Zufallsprinzip zu gelangen, ohne explizit danach gesucht zu haben. Der Vorteil liegt darin, dass dieser Zufall meist deutlich besser als das geplante Ziel ist [6]. In agilen Methoden besitzen die Mitglieder mehr Eigenverantwortung. Zudem sind die Mitarbeiter näher am Produkt, haben einen höheren Wissenstand und können so bessere Ideen entwickeln, als wenn zwischen ihnen und dem Nutzer mehrere Ebenen liegen und sie nur ausführende Kraft einer Teillösung sind. Dies motiviert die Mitarbeiter und fördert ein höheres Engagement. Sie arbeiten wie Entrepreneure für das spezifische Schwarmprodukt [7]. Weiterhin bilden Schwarmmitglieder ein Team, das gemeinsam ein Problem löst und eine Aufgabe erfüllt. Das Bewusstsein hierfür schafft unabhängig von Sympathien und Problemen eine gute kooperative Zusammenarbeit. Damit in Verbindung steht die Stärke der Robustheit nach außen und die Flexibilität. Hinzu kommt, dass aufgrund der Gleichheit innerhalb des Schwarms eine Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet, sodass auch unausgereifte Ideen geäußert werden können. Das aktive Miteinander und die neuen Arbeitsweisen verhindern Betriebsblindheit, da ein starres Abarbeiten entlang bekannter Prozesse vermieden wird.
Abb. 3: Stärken und Schwächen einer Schwarmorganisation
Schwächen
Die größte Schwäche der Schwarmorganisation liegt in der limitierten Einsetzbarkeit. Schwärme bieten sich hervorragend z.B. für die Unternehmensbereiche Produktentwicklung, Serviceverbesserung oder Marketing an. Im Gegenzug sind Schwärme in Abteilungen wie bspw. Controlling kaum anwendbar. Ein Zweifel an der theoretischen Leistungsfähigkeit des Teams ist ebenfalls zu beachten, da der Faktor Menschen nicht vernachlässigt werden darf. Egoismus, Eitelkeit und gefühlsgeleitete Entscheidungen können den Erfolg eines Schwarms hindern. Solche negativen Konflikte können, wenn sie nicht offen angesprochen und aktiv gelöst werden, den Wirkungsgrad eines Schwarms mindern [8].
Durch innovatives Arbeiten kann zudem eine kreative Unruhe entstehen, wodurch sich einige Mitarbeitende hilflos führen, da Schwarmprozesse und Methoden noch unbekannt und ungeübt sind. Die Transparenz, die innerhalb des Schwarms erforderlich ist, muss zwingend von allen Mitgliedern gewünscht und gelebt werden. Andernfalls gefährden interne Widerstände das gemeinsame Ziel [9].
#FORTSCHRITT-Fazit
Unternehmen sind komplexe Systeme, welche nicht eindimensional verstanden werden können. So kann durch Interdisziplinarität eine Erweiterung des Blickwinkels gewonnen und dem Unternehmen durch besondere Innovationen ein Alleinstellungsmerkmal verschafft werden. Die dafür notwendige Marktnähe entsteht durch ständige Offenheit für Signale aus der Umwelt. Durch einen erhöhten Kundenfokus fühlen sich diese verstanden und neigen zu einer höheren Identifikation mit dem Unternehmen. So können Produkte entstehen, die ein wahres Bedürfnis der Kunden erfüllen und sie begeistern. Dies bringt den Effekt der Treue mit sich, in dessen Folge sich Kunden langfristig an das Unternehmen binden [10]. Durch den permanenten Austausch sowohl im Schwarm selbst als mit der Umwelt entsteht ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Folglich werden Produkte kundengerechter, Prozesse effizienter und die Arbeitsqualität steigt. Somit werden die Reaktionszeiten deutlich verkürzt, das Unternehmen wird wettbewerbsfähiger und zukunftsorientierter. Schlussendlich stellt - trotz Schwächen - der Einsatz von Schwärmen in Unternehmen eine Win-Win-Situation dar: Es wird eine Produktivitätssteigerung unabhängig von einer gesteigerten Arbeitsintensität oder erhöhten Investition erreicht. Einzig die produktivere Arbeit führt zu einer Vielzahl positiver Effekte, welche unabdingbar für zukunftsfähige Unternehmen sind.
Zusammenfassend erfordert die Einführung und der Einsatz von Schwärmen einen großen Veränderungsprozess, der Ressourcen und ggf. auch einen Coach verlangt [11]. Aufgrund der skizzierten Vorteile kann die Umstellung auf Schwärme in bestimmten Konstellationen allerdings als eine gute Alternative zum klassischen Projekt angesehen werden.
Wie dieses Arbeitsmodell auf die unterschiedlichen Unternehmenstypen angewendet und integriert werden kann, wird in einem zweiten Teil diskutiert.
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[1] vgl. Die Welt, 05.11.2010
[2] vgl. Surowiecki, J. (2005). The Wisdom of the Crowds. S. XI – XV Introduction
[3] vgl. www.perspektive-blau.de/artikel/0704a/0704a.html
[4] vgl. www.gerdneugebauer.de/PM2.pdf
[5] Basisfoliensatz Schwarm für HRBP
[6] vgl. managerSeminare.de Podcast. (2017). Innovation durch Serendipity
[7] vgl. May, J. (2011). Schwarmintelligenz im Unternehmen, wie sich vernetzte Intelligenz für Innovation und permanente Erneuerung nutzen lässt. Publicis Publishing Verlag. Originalausgabe. Erlangen
[8] vgl. www.welt.de/Schwarmintelligenz-und-Schwarmdummheit
[9] vgl. Bachmann, R., Kemper, G., & Gerzer, T. (2014). Unternehmen im Spiegel gesellschaftlichen Wandels. S. 82-84
[10] vgl. Brandes, U., Gemmer, P., Koschek, H., & Schültken, L. (2014). S. 45-48
[11] vgl. managerSeminare.de Podcast. (2013). Schwarm-Management
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